Eine Decke aus Gestein schützt Gletscher besser als vermutet vor dem Klimawandel

05.08.2020  | Northumbria University / Beate Kittl, WSL | News WSL  |  News SLF

Eine neue Studie liefert erstmals Schätzungen, welche Gletscherflächen weltweit von Schutt bedeckt sind. Sie könnten deshalb langsamer schmelzen als angenommen – ein Faktor, der in bisherigen Modellen zur Gletscherschmelze und dem Anstieg des Meeresspiegels vernachlässigt worden sei, wie die Glaziologen betonen.

Sam Herreid und Francesca Pellicciotti von der Northumbria University und der Eidg. Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL haben erstmals die Schuttbedeckung sämtlicher Gletscher der Erde einzeln nachgeprüft. Schrumpfende Gletscher legen die umgebenden Berghänge frei, von denen Gesteinsschutt abrutscht und sich auf den Gletscheroberflächen ansammelt. Diese Trümmer bilden eine Schutzschicht, die viele Meter dick sein kann und das Schmelzen des Gletschereises hinauszögert.

Datengrundlage korrigiert

Obwohl diese Schutzwirkung bekannt ist, wurde sie bisher noch nie sorgfältig kartiert und in globale Gletschermodelle einbezogen. Die neue Studie legt nun offen, wo sich Gesteinsschutt auf den Gletschern der Erde befindet. Ausserdem fanden und korrigierten die Forschenden wichtige Fehler im Randolph Glacier Inventory - einem globalen Inventar von Gletscherumrissen, das die Basis von Hunderten von Studien bildet.

Die Forschenden haben mit Hilfe von Satellitenbildern während drei Jahren mehr als 923’000 Quadratkilometer Gletscher weltweit akribisch untersucht und manuell verifiziert. So konnten sie die Schuttbedeckung auf globaler, regionaler und individueller Gletscherebene analysieren und den weltweit ersten Basisdatensatz von Gletschern in ihrem tatsächlichen Zustand erstellen.

Die Studie zeigt auf, dass mehr als 29’000 Quadratkilometer des weltweiten Gebirgsgletschergebietes mit Gesteinsschutt bedeckt sind - eine Fläche, die fast 500-mal der Grösse Manhattans oder fast drei Vierteln der Schweiz entspricht.

Jeden Gletscher der Welt untersucht

Sam Herreid führte die Studie für seine Doktorarbeit an der Northumbria University und der WSL durch – er ist wahrscheinlich der einzige Mensch, der jeden einzelnen Gletscher auf der Erde untersucht hat. Er hat das Randolph Glacier Inventory manuell korrigiert und dessen Konsistenz deutlich verbessert. «Die Schuttbedeckung jedes Gletschers ist einzigartig und stark klimaabhängig. Aber bis jetzt haben globale Gletschermodelle die Schuttbedeckung bei ihren Vorhersagen über die Reaktion der Gletscher auf ein sich änderndes Klima ausser Acht gelassen», erklärt er.

«Wir wissen jetzt, dass fast die Hälfte der Gletscher der Erde mit Schutt bedeckt ist. In den Gebirgen der Welt sind es total 7,3%», fügt er hinzu. Wenn man bedenke, dass sich ein Grossteil dieser Schuttdecke am Ende eines Gletschers befindet, wo jener normalerweise am stärksten schmilzt, werde dieser Prozentsatz besonders wichtig, nämlich im Hinblick auf die Vorhersage zukünftiger Wasserressourcen und des Anstiegs des Meeresspiegels.

Abfluss überschätzt

Die von der Studie aufgedeckten Ungenauigkeiten im Randolph Glacier Inventory betragen immerhin 3,3%. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass 10’000 Quadratkilometer kartierte Gletscherfläche gar nicht wirklich Gletscher waren, sondern eher Grundgestein oder bewachsener Boden. Entweder wurden die Gletscher falsch kartiert oder sie sind inzwischen abgeschmolzen.

In Kombination mit der reduzierten Schmelze durch die isolierende Gesteinsdecke bedeutet dies, dass alle bisherigen globalen Gletschermodelle, die auf dem Inventar basieren, wahrscheinlich das wahre Ausmass der Gletscherschmelze, des Wasserabflusses und folglich deren Beitrag zum globalen Meeresspiegelanstieg überschätzt haben. Für ein Zehntel der Gletscherfläche muss gemäss der neuen Studie die Schmelze neu abgeschätzt werden – laut den Forschenden eine «alarmierend hohe Zahl».

Zukunft der Gletscher

Das Team erarbeitete auch eine Methode, um die Entwicklung der schuttbedeckten Gletscher in den kommenden Jahrhunderten zu analysieren. Sie verglichen dazu die vielen Gletscherzustände, die heute auf der Erde vorhanden sind - von den als «jung» geltenden Gletschern mit offenem Eis in Grönland bis hin zu den "alten" und mit Gestein bedeckten Gletschern im Himalaya.

Daraus konnten sie eine Zeitachse zusammenstellen, die ihrer Meinung nach die zukünftige Entwicklung eines Gletschers skizziert. Diese zeigt, dass viele Gletscher am älteren Ende des Spektrums liegen und daher als im Niedergang begriffen betrachtet werden können. «In den oberen Bereichen der Gletscher sammelt sich ständig Schnee an und wird immer schuttfrei sein, deshalb haben wir nur die unteren Gletscherebenen betrachtet, wo sich Gesteinsschutt ansammeln kann», erklärt Francesca Pellicciotti. Mit der Erosion rund um den Gletscher und der Gletscherschmelze verändert sich die Fläche des Gesteins an der Oberfläche eines Gletschers. So konnten die Forschenden für jeden Gletscher ungefähr feststellen, wann er fast vollständig mit Felsen bedeckt sein wird.

«Wir haben festgestellt, dass der Grossteil der mit Schutt bedeckten Gletscher das Maximum der Schuttablagerung bereits überschritten hat und sich den ‘alten’ Himalayagletschern annähert, die möglicherweise nicht mehr lange existieren werden.»

Dies sei ein weiterer Hinweis auf den Tribut, den der Klimawandel von den Gletschern der Erde fordert. «Wir verfügen jetzt immerhin über eine Referenzmessung zur Schuttbedeckung aller Gletscher und Methoden, um ihre Änderungsrate im Klimawandel zu überwachen und vorherzusagen», sagt Pellicciotti.

Die Studie «The state of rock debris covering Earth's glaciers» ist jetzt auf Nature Geoscience verfügbar.

Originale Pressemitteilung von der Northumbria University.

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