Gletschermonitoring in Corona-Zeiten

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Auch während des Corona-Lockdowns - und ohne die Hilfe von Seilbahnen - musste WSL-Glaziologe Matthias Huss Gletscher vermessen. Stattdessen gelangten er und sein Team auf Skiern oder im Militärhelikopter auf die Berge. Wie das ging, erzählt Huss im WSL-Logbuch.

Mitte März kam der Corona-Lockdown. Plötzlich stand alles still. Sofort war uns klar, dass die zwischen Anfang April bis Ende Mai geplanten, umfangreichen Messungen auf Schweizer Gletschern gefährdet sind. Im Schweizerischen Gletschermessnetz (GLAMOS, www.glamos.ch) bin ich mit meinen Kollegen zuständig für Koordination, Durchführung und Auswertung der langjährigen Messungen, dem Monitoring. Dabei hat Kontinuität oberste Priorität.

Langfristige Messreihen in Gefahr

Jedes Jahr werden dieselben Beobachtungen zur gleichen Zeit gemacht, um den Effekt von Klimaschwankungen auf die Gletscher zu dokumentieren. Wir führen jeweils zwei Begehungen auf über einem Dutzend Gletschern in allen Landesteilen durch: Ende Winter, um die Schneemenge zu bestimmen, und im September, um die Schmelze zu messen. Einige Datenreihen reichen über 100 Jahre in die Vergangenheit zurück. Sogar während beider Weltkriege wurden sie durchgehend aufrechterhalten! Jetzt in der Corona-Pandemie stehen wir in der Verantwortung, eine Lücke zu vermeiden.

In erster Linie sind es logistische Probleme, die auf uns zukommen. Für viele Messungen benutzen wir Bergbahnen, damit wir die Gletscher schnell erreichen können. Die sind zu – da ist nichts zu machen. Es sei denn, wir nehmen die Sache «sportlich» und steigen mit Ski vom Tal auf. Zu Beginn des Lockdowns war auch unklar, ob wir die Helikopter-Transporte durchführen können, auf die wir für verschiedene Gletscher angewiesen sind. Dazu kam das Problem der Gruppengrösse: Auf grösseren Gletschern arbeiten wir sonst mit bis zu acht Personen – gemäss den Regeln des Bundes war das nicht erlaubt. Wir entschlossen uns, im Home-Office abzuwarten und auf eine gewisse Entspannung zu hoffen. Vor allem während der perfekten Wetterbedingungen Anfang April war es nicht einfach, geduldig zu bleiben. Doch dann zeigte sich der Silberstreif am Horizont. Dank gewisser Lockerungen der Massnahmen wurden Messungen in Kleingruppen wieder möglich.

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Ein GLAMOS-Team im obersten Teil des Rhonegletschers. (Foto: M. Huss)
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Die Zunge des Rhonegletschers ist beginnt schon Ende April stellenweise auszuapern. Das ist früher als normal. Foto: M. Huss
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Aufgrund des massiven Rückgangs werden einige Gletscher immer schwieriger erreichbar. Abklettern auf den Vadret dal Murtèl im Engadin. Foto: M. Huss
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Eindrücklicher Tiefblick aufs italienische Nebelmeer vor Arbeitsbeginn auf dem Findelgletscher bei Zermatt. Foto: M. Huss

Gletscher messen mit Militär-Helikopter

Drei Gletscher konnten wir zu zweit mit langen Skitouren besuchen. Zwar mussten wir auf einen Teil des schweren Messgeräts verzichten, konnten aber dennoch wichtige Daten erheben, welche die Kontinuität der Reihen sichern. Ein Glücksfall war das Entgegenkommen des Schweizer Militärs: Da Überkapazitäten vorhanden waren, durften wir mit einem grossen Helikopter, der die Einhaltung des Sicherheitsabstandes auch in der Luft ermöglichte, direkt auf mehrere Gletscher fliegen. Diese wären sonst kaum erreichbar gewesen.

Obwohl wir auch dort in deutlich kleineren Teams als sonst arbeiteten, konnten wir verlässliche Daten zu Schneehöhe und Schneedichte in allen Bereichen der Gletscher aufnehmen. Für eine der Messungen im Wallis war eine Hotelübernachtung unumgänglich. Sehr herzlich war der Empfang im (einzigen?) geöffneten Hotel in Täsch, wo wir nach zwei Monaten die allerersten und einzigen Gäste waren und natürlich mehr als genug Platz zu Verfügung hatten, das social distancing einzuhalten.

Schlussendlich konnten wir 14 der 15 Gletscher besuchen, welche im normalen Programm jeweils vermessen werden. Auf dem verbleibenden Gletscher lieferte eine automatische Station zumindest einen Teil der benötigten Information. Obwohl wir im Vergleich zu den Vorjahren etwas weniger umfangreiche Daten erheben konnten, sind wir doch mehr als zufrieden mit dem Resultat dieser Corona-Saison. Zu Beginn des Lockdowns hätten wir nicht erwartet, sämtliche Messreihen aufrecht erhalten zu können. Es hat zum Glück alles zusammengepasst: Gerade rechtzeitig gewisse Lockerungen der Vorschriften, stabiles Wetter und die grosse Motivation aller an den Messungen Beteiligten.

Passabler Winter, frühe Schmelze

Die Messdaten zeigen, dass der Winter 2019/2020 trotz der im Flachland warmen Witterung und den wenigen Niederschlägen ab März, nicht so schlecht für die Schweizer Gletscher gewesen ist. Während das Schnee-Wasseräquivalent, also die in der Schneedecke gebundene Wasser­menge, im Osten leicht unter dem Schnitt der letzten 10 Jahre lag, war es in der Zentralschweiz, im Westen und im südlichen Wallis sogar leicht höher. Trotzdem hat die Schmelze auf den Gletscherzungen dieses Jahr schon früh eingesetzt. Die Schlussabrechnung wird im September gemacht. Dann wird sich weisen, wie sich der für die Gletscher durchschnittliche Winter zusammen mit den Sommer-Temperaturen auf die Schmelze ausgewirkt hat.

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