Automatische Klassifikation des Lawinengeländes
Geländeeigenschaften, insbesondere die Hangneigung und die Form, sind für die Beurteilung der Lawinengefahr und des Risikos von entscheidender Bedeutung. Die Interpretation des Geländes aus der topografischen Karte ist selbst für Experten nicht trivial und limitiert. Hochaufgelöste digitale Höhenmodelle liefern diesbezüglich mehr Geländeinformation. Bereits etabliert haben sich Hangneigungskarten. Am SLF wurde eine Methode entwickelt, um neue Karten zu erstellen, welche lawinenrelevantes Gelände klassieren und die Lawinenauslösung sowie den Auslauf inklusive Fernauslösung und Konsequenzen berücksichtigen. Diese Karten machen deutlich mehr Information für die Wintersportler verfügbar als die Hangneigungskarten.

Soll für den Aufstieg der steile Rücken mit 40° Neigung oder doch besser der flachere 35° steile Hang gewählt werden? Wie weit weg vom Steilhang sollen wir den Hangfuss traversieren, um Fernauslösungen möglichst zu vermeiden? Wo sollen wir uns für eine Pause besammeln, um möglichst sicher zu sein, nicht von einer Lawine erfasst zu werden? Besteht die Gefahr einer besonders tiefen Verschüttung oder eines Absturzes?
Für Antworten auf diese Fragen muss nebst der Lawinen- und Wettersituation das Gelände unter diversen Aspekten beurteilt werden. Anders als bei der Schneedecke ändern die Geländeeigenschaften zwar kaum, es ist aber dennoch auch für erfahrene Tourengeher schwierig, das Gelände mit Blick auf das Lawinenrisiko zu interpretieren. Räumlich hochaufgelöste digitale Höhenmodelle bieten die Grundlage, die obigen Fragen computergestützt zu beantworten – und das für das ganze Gebiet der Schweizer Alpen. Das Ziel des SLF-Projektes war, basierend auf dieser Grundlage und abgestützt auf Daten und Modellen, das Lawinengelände für typische sog. «Skifahrerlawinen» vollautomatisch und grossflächig zu klassieren. Berücksichtigt wurden folgende Aspekte:
- Mehrheitlich lawinensicheres Gelände
- Typisches Anrissgelände von Schneebrettlawinen
- Gelände wo Schneebrettlawinen am Hangfuss fernausgelöst werden können
- Möglicher Auslaufbereich einer typischen «Skifahrerlawine» (max. Grösse 3)
- Potenzial des Geländes für tiefe Verschüttung oder ernsthafte Verletzungen durch Absturz.
Es wurden zwei Lawinengeländekarten für die ganze Schweiz erstellt, welche bei der Planung von Touren und bei der Beurteilung vor Ort hilfreich und einendeutlichen Mehrwert bringen können.
Kartenprodukte
Thematisch klassiertes Lawinengelände (Classified avalanche terrain, CAT)
Diese Karte unterteilt das Lawinengelände thematisch in Anrissgebiet mit roten Farben und in Auslaufgebiet in blau und gelb (Abb. 1). Was bedeuten diese Farben? Rot zeigt potentielles Anrissgebiet zwischen 30 und 50° Neigung. Je dunkler der rote Farbton, desto wahrscheinlicher ist ein Lawinenanriss. Das potentielle Auslaufgebiet ist mit drei Blautönen und gelb eingefärbt. Je dunkler das Blau desto wahrscheinlicher ist eine Fernauslösung im Falle eines ungünstigen Schneedeckenaufbaus (typisch bei Altschneeproblem). Die gelbe Farbe zeigt den möglichen Auslauf einer grossen (Grösse 3), trockenen Schneebrettlawine mit durchschnittlicher Anrissmächtigkeit von 50 cm.

Gefahrenhinweisekarte Lawinengelände (Avalanche terrain hazard, ATH)
Die Gefahrenhinweisekarte zeigt wie ernsthaft oder gefährlich das Gelände generell bezüglich Lawinen ist. Dabei werden das Potenzial für Lawinenanriss und Fernauslösung mit den möglichen Konsequenzen durch Verschüttung oder Absturz kombiniert. Der Layer besteht aus kontinuierlichen Werten, die mit einem Farbverlauf dargestellt sind. Je höher der Wert, desto gefährlicher ist das Gelände hinsichtlich Lawinen. Im Gegensatz zur ersten Karte kann hier nicht thematisch zwischen Anriss- und Auslaufgebiet unterschieden werden.

Möglichkeiten und Grenzen der Karten
Die neuen Karten bieten einen Mehrwert gegenüber den Hangneigungskarten, da sie zeigen, wo Lawinen auftreten und wo man ausserhalb der steilen Gebiete gefährdet sein kann. Sie zeigen zum Beispiel beim Einzeichnen des Routenverlaufs auf der Karte oder bei der Routenwahl im Gelände, wo und wie günstig oder ungünstig das Gelände ist und ob man von einer Lawine, die oberhalb anreisst, erreicht werden kann. Dabei gilt es die folgenden Einschränkungen zu beachten:
- Die Karten sind ausgelegt für Lawinensituationen in denen kleine bis grosse (Lawinengrösse 3), aber keine sehr grossen Lawinen zu erwarten sind. Nicht eingefärbtes Gelände ist unter dieser Annahme relativ sicher.
- Auch schmale Grate sind oft nicht eingefärbt. Solche Stellen können aber aufgrund anderer Gefahren wie Wechten oder Absturz gefährlich sein.
- Gelände im als "dicht" eingestuften Wald wurde nicht berücksichtigt, während der als "offen" eingestufte Wald als unbewaldetes Gelände behandelt wurde. In Wirklichkeit ist die Waldstruktur dynamisch, was nicht berücksichtigt ist.
- Unterschiede in Exposition und Höhenlage sowie Gelände über 50° Neigung wurden nicht berücksichtigt.
- Schliesslich wird nur das Gelände berücksichtigt, aber nicht die Verhältnisse, der Gefahrengrad oder das Lawinenproblem; die Karten sind in diesem Sinne statisch und berücksichtigen die aktuelle Lawinengefahr nicht.
Modellierung des Lawinengeländes
Es wurden verschiedene Methoden entwickelt um, basierend auf einem Geographischen Informationssystem (GIS), die folgenden Bereiche des potentiellen Lawinengeländes zu modellieren. Als Datengrundlage diente das digitale Geländemodell SwissAlti3D von Swisstopo mit 5 Meter Auflösung.
- Potentielle Anrissgebiete
Aus der Analyse von Hangneigung und Geländeform von über 5000 von Hand kartierten Lawinen wurden die Geländeeigenschaften abgeleitet, die für einen Lawinenanriss typisch sind. - Typisches Gelände für Fernauslösungen
Potenzielle Bereiche für Fernauslösungen wurden statistisch aus der bekannten Distanz von Auslöseort zum Anrissgebiet von fernausgelösten Unfalllawinen bestimmt. - Möglicher Auslauf einer typ. “Skifahrerlawine”
Die Ausdehnung des Lawinenauslaufs wurde mit dem Lawinensimulationsmodell RAMMS::EXTENDED berechnet. Es wurden Lawine maximal der Grösse 3 («gross») mit 50 cm Anrissmächtigkeit simuliert. - Mögliche Konsequenzen durch Verschüttung oder Absturz
Das Potenzial für eine grosse Verschüttungstiefe bei einer Lawinenerfassung konnte aus den Lawinensimulationen abgeleitet werden. Zudem wurde ein Fallmodel entwickelt, um das Potenzial von ernsthaften Verletzungen durch Absturz abzuschätzen.
Die entwickelten Methoden und die gewonnen Erkenntnisse ermöglichen eine automatische Kartierung des Lawinengeländes, welche zu einem grossen Teil auf Daten und Modellen basiert. Die Validierung mit Lawinenunfällen und durch Experten hat gute Übereinstimmung mit der Kartierung gezeigt. Diese neuen Karten bieten eine fundierte Grundlage für Weiterentwicklungen, wie beispielsweise automatische Unterstützung bei der Routenlegung bzw. Erkennung und Bewertung von Schlüsselstellen oder Lawinengefahrenkartierung in Echtzeit.
Wo sind die Karten verfügbar?
Beide Lawinengeländekarten sind im Tourenplanungsmodul TOUR von White Risk (whiterisk.ch und App) als Layer integriert und mit einer Standard-Lizenz verfügbar.
Zudem können die Karten auch mit folgenden Links halbtransparent auf map.geo.admin.ch angeschaut werden.
Details zum Projekt
Projektdauer
2017 - 2018
Projektleitung
