Lehren aus Lawinenwinter 1999

1999 kam es in weiten Teilen des Alpenraums zu zahllosen Lawinenniedergängen mit teilweise katastrophalen Folgen. Welche Konsequenzen wurden aus dem Lawinenwinter 1999 gezogen? Wie sind die verantwortlichen Lawinendienste und Krisenstäbe heute gerüstet?

Der Grund für die intensive Lawinenaktivität 1999 waren drei aufeinander folgende mehrtägige Nordwest-Staulagen (26.-29. Januar, 5.-10. Februar und 17.-24. Februar), die zu lang anhaltenden intensiven Schneefällen führten. Innerhalb von knapp fünf Wochen fielen in grossen Teilen des Alpenraumes mehr als 5 m Schnee und es herrschte für mehrere Tage die höchste Gefahrenstufe 5 („sehr gross“) der europäischen Lawinengefahrenskala. Viele Verkehrswege im Alpenraum waren unterbrochen und ganze Talschaften von der Umwelt abgeschnitten. Hunderttausende von Touristen waren betroffen. Die drei verheerendsten Lawinenniedergänge waren in Chamonix/Montroc (F) mit 12, Evolène (CH) mit 12 und Galtür (A) mit 31 Todesopfern. In der Schweiz gab es rund 1200 Schadenlawinen mit insgesamt 17 Todesopfern in Gebäuden und auf Strassen. Die damit verbundenen direkten und indirekten Sachschäden beliefen sich auf über 600 Millionen Franken.

Um Lehren für den zukünftigen Umgang mit Lawinenwintern zu ziehen, leitete das SLF im Auftrag des Bundesamtes für Umwelt (BAFU) im Jahr 1999 eine umfassende Ereignisanalyse ein. Forschende und Experten untersuchten die Lawinenprozesse, die Güte der Gefahrengrundlagen und die Wirkung der Schutzmassnahmen und prüften die Effizienz der Warnungen und des Krisenmanagements. Im Folgenden geben wir einen kurzen Überblick über die Massnahmen, welche nach der Analyse des Lawinenwinters 1999 ergriffen wurden.

Baulicher Lawinenschutz

Die umfangreichen Investitionen beim baulichen Lawinenschutz, welche seit dem Lawinenwinter 1950/51 getätigt wurden, hatten sich 1999 grösstenteils bewährt. Die Zahl der Todesopfer war 1999 (17 Tote) im Vergleich zu 1950/51 (98 Tote) viel geringer, trotz des sehr hohen Touristenaufkommens in der Lawinensituation, die genau in die Ferienzeit fiel. Viele Lawinenverbauungen stiessen jedoch an ihre Belastungsgrenze. Bei der Überarbeitung der massgeblichen Richtlinien für den Lawinenverbau wurden deshalb die extremen Schneehöhen vom Winter 1999 berücksichtigt. Der finanziell sehr aufwendige Unterhalt der bestehenden Bauwerke stellt für alle Beteiligten eine grosse Herausforderung dar.

Die technischen Richtlinien aus dem Jahr 2007 für den Lawinenverbau in Anbruchgebieten können hier heruntergeladen werden.

Bessere Vernetzung dank Interkantonalem Frühwarn- und Kriseninformationssystem IFKIS

Eine Intervention kann nur rechtzeitig eingeleitet werden, wenn die Beobachtungen vor Ort verlässlich sind und wenn entsprechende Warnungen früh genug die verantwortlichen Krisenstäbe und Lawinendienste erreichen. Hier zeigte die Ereignisanalyse von 1999 Optimierungspotenzial auf. Deshalb entwickelte das SLF das Interkantonale Frühwarn- und Kriseninformationssystem IFKIS.

Ein zentraler Teil von IFKIS waren die täglichen Rückmeldungen der SLF Beobachter zur aktuellen Wetter- und Lawinensituation. Dieser Teil wird ab 2017 innerhalb des Projektes SLFpro weitergeführt.

Ein zweiter wichtiger Bestandteil von IFKIS war die Informationsplattform. Dieser sogenannte InfoManager wurde 2016 von der Gemeinsamen Informationsplattform GIN abgelöst. Sicherheitsverantwortliche in Kantonen und Gemeinden fragen über diese online-Plattform Frühwarnungen, Lawinenbulletins sowie Schneedecken- und Wetterdaten ab.

Neben der Kommunikation zwischen dem SLF und den Sicherheitsverantwortlichen ist auch die Kommunikation der Sicherheitsverantwortlichen untereinander von zentraler Wichtigkeit. Dafür stellt das SLF mit dem Massnahmen-Informationssystem IFKIS-MIS eine spezielle Plattform zur Verfügung. Auf IFKIS-MIS  können Informationen über Massnahmen (Strassenschliessungen, Evakuationen) oder Ereignisse (Lawinenabgänge) eingetragen werden. Diese Daten macht IFKIS-MIS dann unverzüglich allen Teilnehmern zugänglich.

Durch die bessere Vernetzung aller Beteiligten dank IFKIS und seinen Nachfolgesystemen können Interventionsmassnahmen früher eingeleitet und effizienter umgesetzt werden.

GIN - Gemeinsame Informationsplattform Naturgefahren

Als Folge des Hochwasserereignisses 2005 entwickelten MeteoSchweiz, BAFU und SLF die Gemeinsame Informationsplattform Naturgefahren GIN. Hier bieten wir den Fachleuten in Bund, Kantonen und Gemeinden unsere Produkte zu den verschiedenen Naturgefahren an. GIN umfasst Mess- und Beobachtungsdaten, Vorhersagen, Warnungen, Modelle und Bulletins. Damit verfügen die Sicherheitsverantwortlichen rasch und in übersichtlicher Form über wichtige Informationen. Seit 2016 hat GIN den IFKIS Info Manager abgelöst.

Fortschritt bei Ausbildung und Organisation der Lawinendienste

Als Schwachstelle im Krisenmanagement erwies sich im Lawinenwinter 1999 der ungleiche Stand in der Organisation und Ausbildung der Lawinendienste. Im Rahmen des Projektes IFKIS wurde daher vom SLF in Zusammenarbeit mit dem BAFU und den Gebirgskantonen ein Ausbildungskonzept entwickelt. In einer Checkliste sind zum Beispiel alle Punkte erwähnt, die bei der Organisation eines Lawinendienstes festgelegt werden müssen. Das Kursprogramm, welches wir nach wie vor durchführen, hat inzwischen zu einem deutlichen Fortschritt im Ausbildungsstand der Lawinendienste geführt.

Entwicklung und Umsetzung Risikokonzept

Der Lawinenwinter 1999 hat einmal mehr gezeigt: Naturgefahren lassen sich im alpinen Lebensraum nicht vollständig vermeiden. Trotz bedeutender Investitionen in Lawinenverbauungen oder Wildbachsperren gefährden sie immer wieder Personen oder zerstören Gebäude und Verkehrswege. Sicherheitsfachleute haben deshalb begonnen umzudenken:  Anstatt Naturgefahren mit allen Mitteln verhindern, versucht man heute, deren Risiken zu senken. Die Nationale Plattform Naturgefahren PLANAT hielt 2004 in ihrer Strategie fest, dass dieses Konzept der Risikominimierung (Risikokonzept) das Kernelement im Umgang mit Naturgefahren sein soll. Seither hat die PLANAT verschiedene Lücken zur Umsetzung des Risikokonzepts geschlossen. Als wichtige Grundlage liess sie unter der Leitung des SLF den Leitfaden Risikokonzept erarbeiten.

Besseres Lawinenverständnis dank Forschung

Einen wichtigen Beitrag zur Gefahrenvorbeugung leistet eine gefahrenbewusste Raumplanung, welche die Naturgefahren respektiert und Freiräume für ausserordentliche Ereignisse schafft. Gefahrenzonenpläne spielen dabei eine wichtige Grundlage. Für die Gefahrenkartierung und für die Dimensionierung von Schutzbauten werden Informationen über das Fliessverhalten von Lawinen benötigt.

Je besser wir die Entstehungs- und Fliessprozesse der Lawinen verstehen, desto genauer können Computersimulationen Auskunft über potentielle Anrissgebiete und Gefahrenzonen sowie nötige Schutzmassnahmen geben.

Seit 2005 entwickelt das SLF die Modellierungssoftware «RAMMS – Rapid Mass Movements». Wichtige Parameter wie Auslaufstrecke, Fliessgeschwindigkeit und Druckkräfte der Lawinen werden dabei computerbasiert berechnet. RAMMS liefert für Ingenieure und Praktiker die nötigen Berechnungsmodelle, um die Naturgefahren schnell und einfach einzuschätzen.

Der Aufbau und die räumliche Verteilung der Schneedecke wirken sich auf die Lawinengefahr aus. Diese Bedingungen untersuchen wir  mit einer Vielzahl von neuen Messsystemen und auf verschiedenen Versuchsflächen. Die Ergebnisse fliessen u.a. in die Weiterentwicklung des Schneedeckenmodells Alpine-3D ein, das aus Wetterdaten errechnet, wie die Schneedecke in einer Region beschaffen sein wird.  Ziel ist es, das Modell auch für die operationelle Lawinenprognose einsetzen zu können.

Ausblick

Die präziseren Modelle, die bessere Vernetzung aller Beteiligten sowie die neuen technischen Richtlinien helfen, extreme Lawinenereignisse zukünftig noch besser vorherzusehen, möglichst zu verhindern oder im Ereignisfall zu bewältigen. Politik, Behörden und Forschende sind gleichermassen gefordert, das Risikomanagement stetig zu verbessern. Letzten Endes sind es die Lawinendienste, welche die Verantwortung für die Sicherheit der Bevölkerung vor Ort tragen und in Krisensituationen rasch die richtigen Entscheidungen treffen müssen. Die seit 1999 getroffenen Massnahmen sollen sie bei dieser Arbeit unterstützen. Erst der nächste Lawinenwinter wird jedoch zeigen, ob sich diese zufriedenstellend bewähren. 

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